Den folgenden Morgen wachte ich mit auffallend freiem Kopfe auf. Zu meiner großen Ueberraschung befand ich mich in meinem Zimmer. Meine Gefährten waren ohne Zweifel ebenso, ohne es zu merken, in ihre Cabine gebracht worden. Was während dieser Nacht vorgegangen war, wußten sie wohl ebenso wenig wie ich.
Ich dachte nun mein Zimmer zu verlassen. War ich wieder frei oder Gefangener? Völlig frei. Ich öffnete die Thüre, ging durch die Gänge, stieg die Leiter im Centrum hinaus. Die am Abend zuvor geschlossenen Lucken waren offen. Ich kam auf die Plateform.
Ned-Land und Conseil warteten da auf mich. Ich fragte sie. Sie wußten nichts. Sie waren so tief im Schlaf versunken, daß sie keine Erinnerung mehr hatten, und gleich mir sehr überrascht, sich wieder in ihrer Cabine zu befinden.
Der Nautilus schien uns ruhig und geheimnißvoll, wie stets. Er schwamm an der Oberfläche der Wellen mit mäßiger Geschwindigkeit. An Bord schien nichts geändert.
Ned-Land beobachtete mit seinem scharfen Blick das Meer. Es war leer. Der Canadier gewahrte nichts Neues am Horizont, kein Segel, kein Land. Ein Westwind wehte stark, und hohe Wellen versetzten das Schiff in merkliches Schwanken.
Der Nautilus hielt sich, nachdem er seine Luft erneuert, in einer durchschnittlichen Tiefe von fünfzehn Meter, so daß er rasch wieder an der Oberfläche erscheinen konnte. Dies geschah während dieses Tages, am 19. Januar, gegen Gewohnheit öfters. Der Lieutenant stieg dann auf die Plateform, und man hörte im Innern die gewohnte Phrase.
Der Kapitän Nemo erschien nicht. Von den Leuten an Bord sah ich Niemand, als den phlegmatischen Steward, der mich so pünktlich und so schweigsam wie gewöhnlich bediente.
Gegen zwei Uhr befand ich mich im Salon, und war beschäftigt, meine Notizen zu ordnen, als der Kapitän Nemo öffnete und eintrat. Ich grüßte ihn. Er erwiderte kaum vernehmlich meinen Gruß, ohne ein Wort mit mir zu reden. Ich begab mich wieder an meine Arbeit, in Hoffnung, er werde mir vielleicht Auskunft über die Begebenheiten der vorigen Nacht geben. Es geschah nicht. Ich sah ihn an. Sein Aussehen schien ermüdet; seine gerötheten Augen waren nicht durch Schlaf erquickt, seine Gesichtszüge hatten den Ausdruck tiefer Traurigkeit, eines wirklichen Kummers. Er ging hin und her, setzte sich und stand wieder auf, nahm ein beliebiges Buch und legte es gleich wieder hin, befragte seine Instrumente, ohne, wie gewöhnlich, Notizen zu machen, und schien sich nicht einen Augenblick am Platz halten zu können.
Endlich trat er zu mir und sprach:
»Sind Sie Arzt, Herr Arronax?«
Ich war so wenig auf diese Frage gefaßt, daß ich ihn eine Weile ansah, ohne zu antworten.
»Sind Sie Arzt? fragte er nochmals. Manche Ihrer Collegen haben Medicin studirt.
– In der That, sagte ich, bin ich Doctor und in Spitälern bewandert. Ich habe einige Jahre prakticirt, ehe ich beim Museum angestellt ward.
– Gut, mein Herr.«
Meine Antwort hatte offenbar den Kapitän befriedigt. Aber da ich nicht wußte, was er damit wollte, wartete ich auf weitere Fragen, und behielt mir vor, den Umständen gemäß zu antworten.
»Herr Arronax, sprach sodann der Kapitän Nemo, würden Sie die Gefälligkeit haben, einem meiner Leute Ihren Rath zu ertheilen?
– Sie haben einen Kranken?
– Ja.
– Ich bin bereit, Sie zu begleiten.
– Kommen Sie.«
Ich gestehe, daß mein Herz klopfte. Ich weiß nicht, warum ich einen gewissen Zusammenhang zwischen dieser Krankheit eines Mannes von der Besatzung und dem sah, was gestern sich begeben hatte; und dies Geheimniß beschäftigte meine Gedanken wenigstens ebenso, wie der Kranke.
Der Kapitän Nemo führte mich in den hinteren Theil des Nautilus und ließ mich in eine Cabine neben dem Posten der Matrosen treten.
Hier lag auf einem Bett ein Mann von etwa vierzig Jahren, und energischen Zügen, ein echter Angelsachse.
Ich bog mich über ihn. Der Mann war nicht allein krank, sondern verwundet. Sein Kopf, in blutige Leinwand gewickelt, ruhte auf einem doppelten Kissen. Ich nahm die Leinwand hinweg, und der Verwundete starrte mich mit großen Augen an und ließ mich ohne einen einzigen Klagelaut gewähren.
Es war eine gräßliche Wunde. Der Schädel war mit einem stoßenden Werkzeug zerschmettert, das Gehirn lag offen, und die Gehirnsubstanz hatte eine tiefe Verletzung erlitten. Blutklumpen hatten sich in der zerfließenden Masse gebildet, welche an Farbe der Weinhefe glich. Es lag nicht allein eine Quetschung, sondern auch eine Erschütterung des Gehirns vor. Der Kranke athmete langsam und seine Gesichtsmuskeln waren etwas krampfhaft bewegt. Die Entzündung des Gehirns war vollständig und hatte die Lähmung des Gefühls und der Bewegung zur Folge.
Der Puls des Kranken war unterbrochen. Die äußeren Theile des Körpers wurden schon kalt, und ich sah den Tod herannahen, ohne daß es möglich schien ihn zu hemmen. Ich verband den Unglücklichen, legte die Leinwandumhüllung seines Kopfes wieder zurecht, und begab mich darauf zum Kapitän Nemo.
»Woher kommt die Verwundung? fragte ich.
– Was liegt daran? versetzte der Kapitän ausweichend. Ein Stoß des Nautilus hat einen Hebel der Maschine zerbrochen, und dieser hat den Mann getroffen. Aber was halten Sie von seinem Zustand?«
Ich nahm Anstand mich auszusprechen.
»Sie können reden, sprach der Kapitän. Dieser Mann versteht nicht französisch.«
Ich sah den Verwundeten nochmals an, dann sprach ich:
»Binnen zwei Stunden wird der Mann sterben.
– Ist er nicht zu retten?
– Nein.«
Die Hand des Kapitäns Nemo zuckte krampfhaft, und einige Thränen rannen aus seinen Augen.
Einige Augenblicke beobachtete ich noch den Sterbenden. Seine Blässe nahm zu bei dem elektrischen Licht, welches auf sein Sterbebett fiel. Ich betrachtete sein verständiges Antlitz, das frühzeitig mit tiefen Runzeln bedeckt war, welche das Unglück, das Elend vielleicht, seit langer Zeit gegraben hatten. Ich trachtete aus den letzten Worten des Sterbenden das Geheimniß seines Lebens zu erlauschen.
»Sie können sich nun zurück ziehen, Herr Arronax,« sprach der Kapitän zu mir.
Ich verließ ihn also im Sterbezimmer und begab mich wieder in mein Zimmer, sehr ergriffen von der Scene. Den ganzen Tag über war ich von bangen Ahnungen gequält. Die Nacht schlief ich unruhig mit häufig unterbrochenen Träumen.
Am anderen Morgen früh begab ich mich auf's Verdeck. Der Kapitän Nemo war schon da. So wie er mich sah, kam er auf mich zu.
»Herr Professor, sagte er, beliebten Sie heute einen Ausflug unter'm Meere mit zu machen?
– Mit meinen Genossen? fragte ich.
– Wenn es Ihnen beliebt.
– Zu Ihrem Befehl, Kapitän.
– So kommen Sie, Ihre Skaphander anzuziehen.«
Vom Sterbenden oder Todten war nicht die Rede. Ich begab mich zu Ned-Land und Conseil, theilte ihnen den Vorschlag des Kapitäns Nemo mit. Conseil nahm eifrigst an, und diesmal zeigte sich auch der Canadier geneigt, sich anzuschließen.
Es war acht Uhr Vormittags. In einer halben Stunde waren wir für diesen wiederholten Gang angekleidet und mit den Apparaten zur Beleuchtung und zum Athmen versehen. Die doppelte Thüre wurde geöffnet, und in Begleitung des Kapitäns Nemo mit einem Gefolge von zwölf Leuten der Mannschaft stellten wir uns in einer Tiefe von zehn Meter auf den festen Grund auf, wo der Nautilus ruhig lag.
Ein sanfter Abhang endigte an einem unebenen Grund etwa fünfzehn Klafter tief. Derselbe war durchaus verschieden von dem, welchen ich bei meinem ersten Ausflug unter'm Stillen Ocean angetroffen hatte. Hier nichts von dem seinen Sand, nichts von unterseeischen Wiesen, kein Meer-Wald. Ich erkannte sogleich die merkwürdige Region, deren Bekanntschaft uns der Kapitän Nemo nun machen ließ. Es war das Korallenreich.
Die Korallen gehören zu den Zoophyten. Die merkwürdige Substanz wurde der Reihe nach dem Mineral-, dem Pflanzen- und dem Thierreich zugezählt. Im Alterthum ein Heilmittel, in neueren Zeiten ein Zierrath, wurde ihr erst 1694 von dem Marseiller Prysonnet definitiv ihre Stelle im Thierreich angewiesen.
Die Koralle ist eine Versammlung kleiner Thierchen, welche in einem Gehäuse zerbrechlicher und steiniger Art beisammen sind. Diese Polypen haben einen einzigen Erzeuger, von dem sie durch Sprossen ausgegangen sind; sie haben eine eigene, gesonderte Existenz und nehmen doch am gemeinsamen Leben Theil. Wir sehen also hier eine Art Socialismus in der Natur. Ich kannte die letzten Arbeiten über diese sonderbaren Zoophyten, welche, während sie Zweige treiben, zum Mineral werden, und es konnte mir nichts angenehmer sein, als einmal einen dieser versteinerten Wälder zu besuchen, welche die Natur auf dem Meeresgrund angepflanzt hat.
Die Apparate Ruhmkorff wurden in Thätigkeit gesetzt, und wir gingen längs einer in Bildung begriffenen Korallenbank, welche eines Tages diesen Theil des indischen Oceans abschließen wird. Neben dem Wege standen unentwirrbare Gebüsche mit durcheinandergeflochtenem Gezweige, welche mit kleinen weißstrahligen Sternblumen bedeckt waren. Nur war's mit diesem Baumwuchs gerade umgekehrt wie bei den Erdpflanzen: festsitzend an den Felsen sproßten sie alle in der Richtung von oben nach unten.
Indem das Licht inmitten dieser so lebhaft gefärbten Gezweige spielte, erzeugten sich tausend reizende Effecte. Es kam mir vor, als sähe ich diese cylindrischen Röhren unter dem Wellenspiegel zittern. Ich war versucht, diese frischen Blumenkelche mit zarten Staubfäden zu pflücken; aber wenn meine Hand sich den lebenden Blumen näherte, kam sogleich die ganze Colonie in Aufruhr. Die weißen Blumenkronen zogen sich in ihre rothen Gehäuse zurück, die Blumen verschwanden vor meinen Blicken, und das Gebüsch verwandelte sich in einen Block mit steinigen Warzen.
Der Zufall ließ mich hier die kostbarsten Muster von Zoophyten antreffen. Diese Korallen kommen an Werth denen gleich, die man im Mittelländischen Meer an den Küsten Frankreichs, Italiens und der Berberei fischt. Ihre lebhaften Farben rechtfertigen die poetischen Namen, »Blutblumen« und »Blutschaum«, welche der Handel ihren schönsten Producten giebt. Die Korallen kosten bis zu fünfhundert Francs das Kilogramm.
Bald wurden die Gebüsche dichter, der Baumwuchs höher. Wahre versteinerte Waldschläge und langes Sparrenwerk einer phantastischen Architektur öffnete sich vor unseren Schritten. Der Kapitän Nemo trat unter eine dunkle Galerie mit sanftem Abfall, die uns hundert Meter tief hinabführte. Das Licht unserer Serpentinen erzeugte mitunter zauberhafte Effecte, wenn es sich an den rauhen Vorsprüngen der natürlichen Bogen oder an den gleich Lüstren herabhängenden Theilen brach. Unter dem Korallengebüsch gewahrte ich noch andere Polypen, die nicht minder merkwürdig sind, Meliten, Iris, Büsche von Korallinen, grün und roth, wahre Algen mit einer Kruste von kalkhaltigem Salz, welche die Naturforscher nach langem Streiten dem Pflanzenreich zugetheilt haben.
Endlich, nach einem Weg von zwei Stunden, hatten wir eine Tiefe von dreihundert Meter erreicht, d.h. die äußerste Grenze, wo die Korallenbildung beginnt. Aber da gab's nicht mehr einzelne Büsche, noch niedere Schläge. Es war hier ein ungeheurer Wald, mineralischer Hochwuchs, enorme versteinerte Bäume, durch Guirlanden zierlicher Plumaria, dieser See-Lianen, miteinander verbunden. Unter ihrem hohen Gezweig gingen wir frei, und hatten zu unseren Füßen einen förmlichen Teppich von Tubiporen, Meandrinen, Caryophyllen und anderen wie Edelstein glänzenden Blumen.
Inzwischen hatte der Kapitän Nemo Halt gemacht. Ich blieb mit meinen Gefährten auch stehen, und als ich mich umwendete, sah ich, daß seine Leute einen Halbkreis um ihn bildeten. Als ich sie genauer betrachtete, nahm ich wahr, daß vier von ihnen einen länglichen Gegenstand auf den Schultern trugen.
Wir befanden uns hier im Mittelpunkt einer geräumigen, lichten Stelle, die von hohem Baumwuchs umgeben war. Unsere Lampen verbreiteten eine Art Dämmerschein, in welchem lange Schatten über den Boden fielen. An der Grenze dieser Lichtung begann wieder tiefes Dunkel.
Ned-Land und Conseil befanden sich neben mir. Wir sahen zu als Zeugen einer merkwürdigen Scene. Der Boden hatte an verschiedenen Stellen leichte mit einer Kalkkruste überzogene Erhöhungen in regelmäßiger Ordnung, als wie von Menschenhand gefertigt.
In der Mitte der Lichtung war auf einem Piedestal roh aufgeschichteter Steinblöcke ein Kreuz von Korallen errichtet.
Auf einen Wink des Kapitäns Nemo trat einer der Männer vor und begann einige Schritte vor dem Kreuz mit einer Hacke, die er von seinem Gürtel nahm, ein Loch zu graben.
Jetzt wurde mir's klar: Diese Lichtung war ein Friedhof, dies Loch ein Grab, der längliche Gegenstand die Leiche des verstorbenen Mannes. Der Kapitän mit seinen Leuten war damit beschäftigt, den Kameraden an dieser unzugänglichen Stelle des Meeresgrundes zu bestatten.
Inzwischen wurde das Grab langsam fertig. Als es weit, tief und lang genug war, traten die Träger hinzu, und der Leichnam, in weiße Byssus gehüllt, wurde in die nasse Stätte eingesenkt. Der Kapitän Nemo, mit über der Brust gekreuzten Armen, und alle Freunde des Verstorbenen, sanken gleich Betenden auf die Kniee ... Meine Gefährten und ich, wir neigten uns in frommer Ehrerbietung.
Darauf wurde das Grab wieder zugeschüttet, so daß es eine leichte Erhöhung bildete.
Hierauf stand der Kapitän mit seinen Leuten wieder auf, dann stellten sie sich nahe um das Grab, bogen alle ihre Kniee und streckten ihre Hand aus zum letzten Abschied ...
Sodann begab sich die Leichenbegleitung wieder auf den Heimweg zum Nautilus, unter dem gewölbten Bogengang, inmitten des Baumschlags und längs der Korallengebüsche, stets bergan.
Endlich zeigten sich die Leuchten an Bord des Nautilus. Ihr Lichtschein führte uns bis zu demselben. Um ein Uhr waren wir wieder zurück.
Sobald ich meine Kleidung gewechselt, begab ich mich auf die Plateform, und von Gedanken überwältigt wollte ich mich neben der Leuchte niedersetzen.
Der Kapitän Nemo kam auf mich zu. Ich stand auf und sprach:
»Also, wie ich voraus sah, ist der Mann in der Nacht gestorben?
– Ja, Herr Arronax, erwiderte der Kapitän.
– Und nun ruht er bei seinen Genossen auf dem Korallenfriedhof?
– Ja, vergessen von der Welt, außer uns! Wir graben das Grab, und die Polypen bestatten unsere Todten für ewig!«
Und sein Gesicht mit den Händen bedeckend versuchte der Kapitän vergebens sein Schluchzen zu verbergen. Dann fügte er bei:
»Hier ist unser Friedhof, einige hundert Fuß unter dem Meeresspiegel!
– Ihre Todten ruhen da gewiß friedlich, Kapitän, unangefochten von den Haifischen!
– Ja, mein Herr, erwiderte ernst der Kapitän Nemo, vor den Haifischen und den Menschen!«